Die Reise ins Zeitlose


Malerei: Lisa Winter * Fotos und Text: Ralf Niehus

 

 

 

Die Woche war wieder mit Terminen voll gepresst gewesen. Das Wochenende wollte er nutzen um neue Energien zu tanken. Deshalb entschloss er sich, aus der Stadt hinauszufahren "auf das Land". Dorthin, wo er ein kleines Wochenendhaus besaß, welches er bereits seit einigen Monaten nicht mehr aufsuchen konnte, da ihm der Beruf dazu keine Zeit ließ. Großes Leben ist das Leben in der Stadt, mit seinem nie endenden Verkehr, Motorengeräusch, Menschen in den Straßen, Straßenlaternen, Pubs… Hier gab es das alles nicht. Lärm - wenn man davon sprechen kann - machten allenfalls die Vögel.

 

Es war Nacht, eine jener Nächte, in denen es selbst hier nicht richtig ruhig war. Schon abends hatte es zu regnen begonnen. Erst ein sachter Regen, dann wurde er stärker

und schließlich entlud sich ein gewaltiges Gewitter, einhergehend mit dem dazugehörigen Sturm. Das alte Haus krächzte unter dem Ansturm des Windes. Im Kamin brannte das Holz.

 

Dann, ein Stromausfall. Im ganzen Haus wurde es dunkel. Nur der Schein des Feuers erhellte den Raum. Doch das Feuer fing an zu flackern. Es schien abzusterben. Es seltsames Dämmerlicht entstand.

 

Die Bohlen des Hauses quietschten. Die Tür zum Kaminzimmer sprang auf. Zwei Gestalten waren im schwachen, fackelnden Licht des Feuers zu sehen. Eine Fee ? Ein Mann mit Zigarillo ? Sie schienen zu tanzen. Das Auge des Betrachters konnte sich von ihnen nicht abwenden. Es gruselte nicht einmal. Der Sturm ertönte jetzt wie das sachte aber raue Singen eines Liedes, eines Liedes über Berge und Liebe.

Dann plötzlich flackerte der Kamin auf, ein grelles Rot, wie die Sicht in die Hölle. Die Fee und ihr Begleiter waren nicht mehr zu sehen. Der Raum war völlig dunkel. Der Sturm hatte nichts melodisches mehr; er heulte und zog mit noch stärkerer Gewalt über das Haus, welches in seinen Grundfesten erzitterte.

Ein lauter Knall. Die Szenerie hatte sich geändert. Nichts mehr mit behaglicher Wärme im Fachwerkhaus am Kamin. Der Gast, der eben noch vor dem Kamin im Fachwerkhaus saß und die Fee mit ihrem Begleiter meinte wahrgenommen zu haben, fand sich im Gebirge wieder.

Es war kalt. Er hatte nur leichte Bekleidung an, war nun wirklich auf eine solche Situation nicht eingerichtet. Rings herum nur Berge. Alles eingetaucht in tiefe Wolken.

Es regnete zwar nicht, aber es war feucht, eine Feuchtigkeit, die sehr schnell durch das Hemd drang. Er sah sich um. War es Wirklichkeit oder Traum. Sollte es ein Traum sein, wäre es ein ziemlich feuchter.

 

Nichts war zu hören. Alles still. Seitlich am Hang sah er eine Höhle. Dort ging er hin. Er konnte aber nicht weit Einblick nehmen, da es dort drinnen zu dunkel war. Er holte sein Feuerzeug aus der Hosentasche und ging vorsichtig etwas in die Höhle hinein. Dort machte er sein Feuerzeug an. Er sah, dass die Höhle einen Bogen nach links machte. Das Feuerzeug machte er aus; es sollte nicht noch zu allem Überfluss in seiner Hand explodieren. Einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzten. Mit den Händen vorne und seitwärts tastend bewegte er sich auf den Knick der Höhle zu. Er musste gar nicht mit der Hand erst das Ende des Ganges ertasten, da konnte er schon in die abknickenden Teil einsehen. Hinten schien es hell. Irgendetwas leuchtete. Es war aber nicht Tageslicht. Sollte hier jemand wohnen ? Wer käme auf so eine Idee ? Er überlegte. Umdrehen ? Aber wohin dann ? Und: Wie viel Uhr ist es überhaupt ? Es war Abend als er am Kamin saß. Aber diese Zeitberechnung konnte wohl nicht mehr zutreffend, da er immerhin bei Tag auf dem Berg - wie auch immer - ankam.

 

Und wäre es nicht auch sinnvoll festzustellen, wer oder

was sich dort aufhält ?

 

Er ging also langsam weiter. Leise hörte er etwas knistern, das Knistern eines Feuers. Also müssen hier Menschen sein, dachte er bei sich, ein Vulkan wird es schon nicht sein, der brodelt.

 

Er kam in einen großen Raum, in dessen Mitte tatsächlich ein Feuer brannte. Das Holz knisterte, manchmal fiel ein verkohlter Holzblock herab. Wer hat hier das Holz hergebracht - und wie ? Es war niemand zu sehen.

 

Von dem Feuer ging eine angenehme Wärme aus. Er ging nah zum Feuer, so konnte er sich aufwärmen und versuchen seine Kleidung am Leib zu trocknen. Dabei schaute er sich weiter in dem Raum um. Hinter sich an der Felswand fiel ihm jetzt ein Bild auf. Es sah aus wie ein Kreuzweg. Er lächelte ? Eine Landkarte oder ein Wegweiseiser durch das Labyrinth dieser „unterbergischen“ Welt.

Wandmalerei in einer Höhle, die nicht einmal sehr alt zu sein schien, zudem in Farbe. Aus den Urzeiten der Menschheit konnte sie nicht stammen. Er berührte den Stein und sah sich unwillkürlich seine Hände an. Nein, die Farbe war jedenfalls schon trocken. Aber richtig erleichtern wollte dies ihn auch nicht. Er wusste weder wo er war, noch ob sich hier jemand befindet, der ihn gar beobachtet.

 

Kaum dachte er daran, dass er beobachtet werden könnte, drehte er sich um und spähte durch die Höhle. Hinter dem Feuer konnte er aber nichts sehen; die Flammen versperrten hier den Blick. Aber es war ihm, al höre er von dort noch ein anderer Geräusch außer das Knistern des Feuers und das Herabsinken von angekohlten Holz.

Er ging langsam um das Feuer herum. Dahinter bot sich ihm ein Bild, als würden Himmel und Erde aufeinander-stürzen. Eine Felswand war hier nicht mehr zu sehen. War es wieder ein Bild ? Aber vorhin, als er in die Höhle ging, hatte er doch teilweise seitlich hinter dem Feuer schwach in einiger Entfernung schwarz gesehen, mithin gesehen, dass jedenfalls der raum tiefer war. Er hätte es doch sehen müssen.

 

Ob aus Neugierde oder um durch Vergewisserung Angst niederzuschlagen ging er auf diesen sich ihm bietenden Vorgang zu. Und es kam ihm nach einiger Zeit so vor, als befände er sich mittendrin.

 

Seine Schritte verlangsamten sich. Er wollte umkehren. Doch als er sich umschaute, konnte er nichts mehr von einem Feuer sehen. Überall, rund um ihn herum, auch auf dem Boden, entstand der Eindruck dieser Verquickung von Himmel und Erde, ein ineinandergehen, ein in sich aufgehen.

 

Sein Puls schlug höher. Er kniff sich in den Arm; es musste ein Traum sein. Doch außer einem deutlichen Schmerz durch das Kneifen änderte sich die Situation nicht.

Wie also weiter ? Immer nur in diesem abstrusen Gebilde gehen ?

 

Dann sah er vor sich - oder war es jetzt seitlich oder hinter ihm ? Er wusste längst nicht mehr, in welcher Richtung er überhaupt ging - so etwas wie eine Tür. Immerhin etwas Abwechslung. Er ging hin. Diese Art Tür befand sich scheinbar mitten im Raum. Keine Aufhängung, keine Wände. Aber real existierend. Er stand jetzt vor ihr. Seine Hand griff zur Tür. Er stieß sie mit der Hand an.

 

Plötzlich befand er sich in einem Colloseum oder ähnlichem Bau. Auf einen der oberen Ränge. Die Sonne schien.

Erleichterung und Verwunderung hielten sich bei ihm gefühlsmäßig die Waage. Erleichterung, der Höhle in den Bergen entkommen zu sein, Verwunderung, nun an einem solchen Ort zu sein. Immerhin konnte er von Glück sagen, dass er nicht in einer Stierkamparena herausgekommen ist, sich einem Stier entgegenstehend sehen muss.

Unten war eine Person. Sie schaute zu ihm auf. Es war ihm recht, nunmehr wieder jemanden zu sehen, den man zumindest auf dem ersten Blick für einen Menschen halten durfte.

 

Die Person winkte ihm, herunter zu kommen. Langsam ging er den Gang hinunter. Vielleicht konnte er zumindest in Erfahrung bringen, wo er war. Und, welcher tag, eventuell welches Jahr es ist - ach ja, und die Uhrzeit wäre auch nicht schlecht zu erfahren.

 

Als er unten ankam war aber die Person, die ihm gewunken hatte, nicht mehr zu sehen. Er schaute sich um. Alles war leer. Er horchte. Aber auch hier war nichts zu hören. Er ging durch einen kleinen Gang und kam in einem Hof,

dessen angrenzende Bauten mit offenen Emporen versehen war. Es hingen hier Lampen, was bei ihm die Gewissheit verschaffte, jedenfalls zeitlich nicht allzusehr Abstand von seiner eigentlichen Zeit, als er noch am Kamin im Fachwerkhaus saß, zu haben.

 

Er ging die Treppe hoch und in einen dortigen Raum. Der Raum war leer. Er hörte Straßenlärm, ein (jedenfalls für diesen Moment) zufriedenstellendes Geräusch. Dieses drang durch die zerbrochenen Glasscheiben der Fenster an der gegenüberliegenden Wand zu ihm. Er ging zum Fenster.

 

Schnell ging er zurück zum Flur und eine Treppe nach unten. Dort sah er eine Tür nach außen. Er rannte hin und riss sie auf und rannte raus. Aber er war nicht auf einer Straße oder in einer sonstwie bewohnten Gegend; nichts von dem, was eben noch oben gesehen hatte, war vorhanden. Nichts. Er stand auf einer Klippe und konnte in ein Tal sehen, durch welches sich ein schmaler Fluss schlängelte.

Wieder waren keine Menschen zu sehen. Immerhin einige Vögel am Himmel. Aber die konnte er jetzt nicht befragen. Er schaute sich um. In einiger Entfernung sah er einen Weg, der ins Tal führte. Also ging er dorthin, in der Absicht, dem Fluss talabwärts - so möglich - zu folgen.

Er ging ca. 20 Minuten, da tat mündete der Fluss in einem Meer. Hier am Küstenrand ging eine Treppe hoch. Also ging er zur Treppe und diese hinauf.

 

Oben angekommen sah er in einer Ausbuchtung eine kleine Hütte. Er ging zu ihr und klopfte an. Keine Reaktion. Er klopfte noch einmal. Wieder keine Reaktion. Er handelte. Langsam drückte er die - hier immerhin vorhandene - Türklinke herunter und schob ebenso langsam wie behutsam die Tür auf. Diese quietschte in den Angeln, war offensichtlich ob ihrer Schwergängigkeit lange nicht mehr benutzt worden und auch nicht geölt worden.

 

Er schaute sich noch einmal um. Nein, bisher hat sich nichts verändert. Er schob nun die Tür ganz auf. Der Raum war leer. Lediglich an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein großes Bild. Daneben hing ein Zettel, auf dem - mit überdimensionierten Buchstaben, wohl der Titel stand: „In der Nacht ist der Mensch nicht

Was heißt „in der Nacht“, dachte er. Er drehte sich zum Gehen. Er war nicht besonders verwundert, dass sich nun das Landschaftsbild wieder verändert hatte. Oder

hatte er sogar damit gerechnet ? Es war wüstenähnlich. Aber immerhin: Ein Strom- oder Telefonkabel war gespannt. Die „zivilisierte“ Gegend hatte er noch nicht ganz (wieder) verlassen. Nun also dem Kabel nach, dachte er. Die Richtung ist schon egal. Er musste nicht weit gehen, da kam er auf einem Hochplateau an,

zwei Dromedars schmusten. Aber nicht das erfreute ihn, sondern dass er wieder eine Stadt sah, eine wohl auch modernere Stadt. Sie lag im Tal. Das Hochplateau war von einer Art Festungsmauer umgeben. Durch ein offenes Tor konnte er auf einem breiten Weg nach unten gehen. Im Tor eine Tafel mit einem Bild und der Bildunterschrift „Wunden bluten“.

Was sollte dies für ihn bedeuten ? Sollte er besser nicht weiter gehen ? Aber wenn nicht, was dann. Es blieb ihm doch nichts, egal, was er antreffen würde.

Nach einigen Metern stand ein Stein, auf dem wieder ein Bild angebracht war. Es zeigte eine innere Zerrissenheit. Wie zwei Welten, die auseinanderdriften oder gerade zusammengehen. So kam er sich auch vor, wie der Wanderer zwischen irgendwelchen Welten.

 

Aber diesmal schaffte er es. Er kam ohne weiteren „Szenenwechsel“ in eine Stadt. Das Problem nur: Zwar konnte er dort die sich auf den Straßen befindlichen Personen ansprechen, die ihm auch freundlich zulächelten - aber er konnte sich nicht verständlich machen. Sie sprachen eine Sprache, die er nun nicht im Ansatz verstand. Alle seine Versuche, mit ihm geläufigen Fremdsprachen Kontakt aufzunehmen, schlugen fehl. Zu allem Uberfluss verspürte er auch

noch Hunger und Durst, da er bei dieser unfreiwilligen Stadtbegehung Läden und Stände sah, die entsprechendes feilbooten. Er griff in die Tasche. Sein Portemonnaie hatte er glücklicherweise dabei. Mit der Kreditkarte würde er aber wohl bei den Ständen kaum etwas anfangen können. Und Euro ? Er ging in einen der Läden, klein, aufgetürmte Ware, nach mitteleuropäischen Verhältnissen nicht gar zu sauber. Er nahm eine Wasserflasche und etwas, was wie Dattelbrot aussah und reichte demjenigen,, der wohl der „Chef“ dieses Etablissements war, einen zehn-Euro-Schein. Der schaute sich diesen an, schüttelte den Kopf. Ein anderer sah dies, nahm ihm den Schein ab, lächelte, winkte ihm zu gehen. Da es kaum noch schlimmer kommen konnte, und man wohl zumindest auch hier in einem Gefängnis Brot und Wasser bekommen dürfte, entschloss er sich, eiligst den Laden zu verlassen.

Er eilte einige Straßen weiter und setzte sich auf eine Bank. Er war nicht verwundert, dass sich die Umgebung - als nach dem ersten Bissen in das Brot hochsah, wieder verändert hatte. Vor ihm war eine Kirche, daneben eine burgähnliche Anlage. Er schaute in seine Hände und neben sich: Das Dattelbrot und das Wasser waren ihm immerhin noch verblieben.

 

Er biss noch einmal zu und setzte die Flasche zum trinken an. Das tat gut. Als er aufschaute sah er ein Bild vor sich. Er kannte es: „Lust“. Lust - lustig, dachte er, dass ich das jetzt sehe und sich dieses wie alles andere vor ihm schiebt. Soll er einfach reingehen ? So wie in das Gebilde von Himmel und Erde ?

Aber bevor er seine Überlegung umsetzen konnte erschien ein weißer Strahl vor seinem Augen. Plötzlich sah er nur noch diesen Strahl. Er rieb sich die Augen. Keiner Bilder mehr, keine Eindrücke, nur der Strahl. Ein Strahl, der von ihm weg führte, wie ein Weg.

 

Und am Ende des weißen Strahls leuchtete es vollkommen hell, magisch hell. Unwillkürlich schritt er auf den Strahl und ging zu dem Licht. Erst glaubte er, es käme nicht näher, doch dann, ganz plötzlich, näherte er sich dem hellen Licht immer schneller. Er hielt inne und blickte zurück. Hinter ihm nur Dunkel. Vorne das gleißende Licht. 

 

Er besann sich: Viele Bilder, die er auf diesem unwahrscheinlich erscheinenden Weg gesehen hatte, hatte er schon einmal erlebt, zu anderen Zeiten; andere Bilder waren wohl Andeutungen. Es war Vergangenheit, die ihn streifte, und Zukunft. Nur der jetzt vor ihm liegende Weg war ihm unbekannt. Diesen beschritt er noch nie. Ihm wurde klar, dass dieser Weg ein einmaliger Weg sein würde, ein Weg in die Zeitlosigkeit. Und er ging in das Licht hinein.