Gallilei contra Rechtsstaat

Kapitel1

 

 

 

 

Es ist lange bekannt - und wurde zuvor noch viel länger geleugnet - daß die Erde rund ist. Die "Erkenntnis" darüber, daß die Erde rund ist, ist nicht so sehr einem wissenschaftlichen Experiment als vielmehr dem Mut eines Mannes zu verdanken , der sich mit der "Offenbarung" dieser Feststellung gegen die damals herrschende (kirchlich geprägte) Auffassung stellte .

 

 

Die Erde isr rund. Sie ist nicht Mittelpunkt, sondern nur ein Teil des Sonnensystems in einer von vielen Galaxien . Eine Selbstverständlichkeit, deren andere Sichtweise in vergangener Zeit heute nur ein Schmunzeln hervorrufen kann. Oder wird heute jemand ernst genommen, der meint bei einer Seefahrt über den Atlantik von der Erdscheibe fallen zu können ?

Galileo Galilei – Porträt von Justus Sustermans, 1636
Galileo Galilei – Porträt von Justus Sustermans, 1636

Undenkbar, daß heute jemand wegen seiner Erkenntnisse angeprangert wird , sich gerichtlich verantworten muß. Undenkbar ? Wir leben in einem Rechtsstaat. Oder ? Oder leben wir (nur) in einem "rechtsstaatlicherem Staat" als Gallilei (1564 bis 1642), der sich in zwei Inquisitionsprozessen wegen seiner Erkenntnis davon, daß sich die Erde um die Sonne bewegt und mithin entgegen kirchlicher Doktrin nicht Mittelpunkt ist, verantworten mußte. Wohl würde heute keiner mehr gerichtlich zur Verantwortung gezogen (und zum  Widerruf gezwungen , der die Auffasung vertritt , die Erde bewegt sich um die Sonne und  nicht umgekehrt. Aber man wird wohl auch annehmen können, der das Gegenteil  behauptet ,  nicht   mit gerichtlichen Sanktionen zu rechnen hätte, als vielmehr mit einem (mitleidigem) Lächeln.

 

 

Aber was wäre , wenn dieser Gallilei heute nicht ein überkommenes mittelalterliches kirchliches Ordnungssystem in Frage stellen würde ? Was wäre, wenn er den Rechtsstaat als solchen in Frage stellen würde ? Er würde als Staatsfeind verfolgt ; er würde verfassungsfeindliche Ziele verfolgen . Na und ? Wer gegen  den  Staat  vorgeht,   muß  auch  die  Härte  des  Staates  kennenlernen,  der     sich  als  wehrhafter


Rechtsstaat (oder wehrhafte Demokratie) darstellt. Und was wäre , wenn er die Rechtsstaatlichkeil dieses Rechtsstaates in Frage stellt?

 

 

 

 

 

Kapitel2

 

 

 

 

1. Wir wollen den Helden dieser kleinen Geschichte Herrn Gallilei nennen. Es ist kein Niemand. Aber es ist auch kein sogenannter  "Revoluzzer' '.   Er studierte  nach dem Abitur  die Jurisprudence  und jobbte während seines Studiums nebenher. Die Vorstellung,  später   - als ausgelernter  Jurist - der Gerechtigkeit  dienen zu können, beseelte ihm. So lernte er Gesetze und Rechtssätze , um diese später anzuwenden . Nie stellte er die Frage, weshalb es denn überhaupt zu einem Rechtsstreit kommen würde , wenn doch die Rechtsordnung so klar ist, wie im Studium dargelegt. Eine Rechtsordnung , die auf den Rechtsstaat zugeschnitten war (oder sein sollte ?). Er begann nach dem Studium mit dem Referendariat.  Hier nun mußte er verschiedene  Stadionen durchlaufen : Gericht , Staatsanwaltschaft , Verwaltung , Anwalt.  Und überall bekam er Akten zur  Bearbeitung mit  dem   Hinweis  auf  das  von  seinen  Ausb ildern  bereits  festgestellte   Ergebnis:  Klagestattgabe   oder

-Abweisung , Anlklageerhebung oder nicht, Verfügung gegen einen Bürger oder nicht bzw. Stattgabe eines Widerspruchs oder nicht, klageweise Geltendmachung eines Anspruchs oder nicht. Er folgte den Vorgaben . Und so wurde er als kleines Rad in dem großen Rechtsstaat tätig , welches sich auf alle kleinen Zahnräder verlassen  muß.

 

 

Irgendwann hatte Herr Gallilei dann sein zweites Staatsexamen absolviert und  erhielt  auf  seinen  Antrag durch pflichtbewußte Mitarbeiter dieses Rechtsstaates seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft , da alle Vorraussetzungen dargetan und nachgewiesen waren . Nun wurde mithin Herr Gallilei  als  eigenständiges Glied in diesem Rechtsstaat tätig .

 

 

 

2. Der Gerechtigkeit wollt er dienen , unser Held. Aber was war Gerechtigkeit ? War daß jenes , was seine Mandanten wollten , oder war es das , was Gerichte daraus machten ? Und wie konnten auf zwei Seiten verschiedene Standpunkte eingenommen werden , wenn - ausgehend jedenfalls von  den  gleichen tatsächlichen Grundlagen  -   es nur eine Rechtsordnung  gibt ? Und: Wurde  nicht auch  Herr Gallilei gekauft


durch Gebühren, die er bei einer Vertretung eines Mandanten einnehmen konnte, obwohl er dessen Anspruch nicht für "gerecht" hielt ? Und hatte er nicht auch schon bei Prozessen obsiegt , bei denen er kaum oder keine Erfolgsaussichten sah? All dies bei einer Rechtsordnung , einem Rechtssystem . Die Begründung dafür ist einfach: Jura ist eine Wissenschaft , von daher nicht statisch . Von daher wird auch bei Rechtsfragen Ausschau gehalten nach Rechtsprechung , und zwar möglichst nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH). Sie zu zitieren um den Gegner rechtsdogmatisch in die Schranken zu weisen bereitet Herrn Gallilei Freude. Nein, er erfindet das Recht nicht neu, er wendet es nur auf der Grundlage der höchstrichterlichen  Rechtsprechung an.

 

 

Aber wir staunte Herr Gallilei, als ihm von einem Richter am Amtsgericht unverblümt erklart  wurde, "Karlsruhe ist weit". Karlsruhe, daß ist der Ort, an dem der BGH seinen Sitz hat. Die von Herrn Gallilei herangezogene Rechtsprechung dieses obersten deutschen Gerichts fans bei dem Amtsrichter keine Gegenliebe. Er hatte seine eigenen Vorstellungen . Nein, so wie von Herrn Gallilei dargelegt könne es nicht gewesen sein. Dem Mandanten von Herrn Gallilei würde er ohnehin nicht glauben, zumal der Gegner zu den anerkannten Honoratioren der Gemeinde gehöre. Und wenn er auch nach der von Herrn Galllilei zitierten Rechtsprechung der von diesem für seinen Mandanten erhobenen Klage stattgeben müßte, tate er es aus den dargelegten Gründen nicht, Darüberhinaus solle sich Herr Gallilei bewußt sein, daß der Streitwert unter DM 1.200,00 Iage, der Wertgrenze, die für ein Rechtsmittel gegen ein Urteil Oberschritten sein müsse. Er könne also nichts machen.

 

 

Herr Gallilei war verbittert . Kann sich eine sogenannte richterliche Unabhangigkeit über höherrangige Rechtsprechung aus niederen Beweggründen , wie sie hier von dem Amtsrichter dargetan wurden , hinwegsetzen ? Nein. Das durfte nicht sein. Herr Gallilei lehnte nunmehr sofort diesen Amtsrichter wegen der Besorgnis der Befangenheit ab und führte zur Begründung aus, daß der Amtsrichter aus sachtremden Gesichtspunkten einen Rechtsstreit zum Nachteil seines Mandanten entscheiden wolle.

 

 

Die Entscheidung über den Befangenheitsantrag hatte eine Zivilkammer bei dem dem Amtgericht übergeordneten Landgericht zu treffen . Sie las den Befangenheitsantrag als auch die dienstliche Stellungnahme  des  abgelehnten  Richters,  in  der  er  nur  kurz  mitteilte,  er  sei  nicht  befangen.  Und dann entschied die Zivilkammer, der Richter sei nicht befangen. Die von ihm offenbar vertretene Rechtsansicht sei zwar verfehlt, aber alleine wegen vorlaufiger (also vor Urteil erfolgter) fehlerhafter Rechtsansicht könne ein Befangenheitsantrag nicht greifen (so BayObLG WoM 93, 457 ; OLG Brandenburg FamRZ 95, 1498; OLG Frankfurt FamRZ 93,1468).

 

 

Der Befangenheitsantrag wurde zurückgewiesen . Die von Herrn Gallilei für seinen Mandanten aus den "vorlaufig" bereits von dem Amtsrichter  geaußerten Gründen zurückgewiesen . Und ein Rechtsmittel gab es nicht. Die Berufung war nicht zulassig , da der Berufungsstreitwert nicht erreicht war .

 

 

Herr Gallilei wollte sich damit nicht zufrieden geben . Er legte Verfassungsbeschwerde ein. Aber auch diese wurde vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen . ln dem Urteil dieses Verfassungsger ichtsgerichts , welches zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Ordnung eingerichtet wurde , hieß es: Zwar könne zugunsten des Beschwerdeführers davon ausgegangen werden , daß die Entscheidung  des Amtsgerichts falsch sei. Aber eine rechtlich fehlerhafte Entscheidung in einem Einzelfall könne jedenfalls dann keine Änderung durch das Verfassungsgericht erfahren , wenn die Rechtsordnung im übrigen (das Prozedere bis zum Urteil) nicht zu beanstanden sei. Und da gegen dieses hier nichts sprache , müsse der mandant des Herrn Gallilei eben mit einem fehlerhaften Urteil leben.

 

 

3.   ln dem  Rechtsstreit, der Gegenstand  der  benannten  amtsgerichtlichen  Entscheidung  war , ging  es  um einen Gartenzaun,  den der  Honoratior  der  Gemeinde  teilweise  auf dem  Grundstück  des  Mandanten  des Herrn Gallilei erstellte und nun nicht entfernen mußte. Herr Gallilei ging nun selber auf das Grundstück  und riss, empört über diese Rechtsprechung "Im Namen des Volkes ", den Zaun nieder. Der Honoratior war nicht begeistert. Er erstattete  nun  gegen  Herrn  Gallilei Strafanzeige  wegen  Sachbeschadigung  und es  wurde gegen den Helden Strafanklage erhoben . ln der Verhandlung  wurde Herr Gallilei von dem Strafrichter nach dem Tatvorwurf befragt und dieser erklärte:

 

 

"Ich bin Rechtsanwalt und von daher - wenn ich dies richtig verstehe - zur Wahrung der rechtsstaatliehen Ordnung verpflichtet. Meine Aufgabe ist es, dem Recht zum Erfolg zu verhelfen . Die Aufgabe der Gerichte ist es, Recht zu sprechen . Das Gericht hat den Sachverhalt  unter Würd igung aller prozessual möglichen (und angebotenen) Beweismittel festzustellen und darauf basierend die Entscheidung zu finden und ein entsprechendes Urteil zu verkünden . Es hat seine Entscheidung unparteiisch , und damit auch ohne Ansehung der Person, zu treffen. Diese einfachen Grundlagen wurden hier nicht gewahrt . Die Wahrheit wurde vom Amtsgericht aus niederen Beweggrpnden untergraben, nicht beachtet. Beweise hat es nicht erhoben , obwohl nach höherrangiger Rechtsprechung notwendig. Das Ergebnis des Zivilverfahrens meines Mandanten war mithin ein Wilkürurteil. Daß das Bundesverfassungsgericht dies nicht so sah, lag an für mich unverstandliehen formalen Umstanden . Wenn ich hier also tatig wurde , habe ich nur den legalen Zustand wiederhergestellt.  Dies kann nicht strafbar sein."

 

 

Herr Gallilei wurde verurteilt. Bei der Strafzumessung wurde straferhöhend bewertet, daß er das Unrecht seiner Tat auch in der strafgerichtliehen Verhandlung nicht eingesehen habe.

 

 

4.   Der Rechtsstaat hat Herrn Gallilei aus möglichen studentischen Traumen über Gerechtigkeit geweckt. Es geht im Rechtsstaat nicht um die Gerechtigkeit , es geht um die Befolgung eines Systems . Wird das System befolgt, geht der Rechtsstaat mit seinen Bürgern barmherzig um. Eigenmacht aber ist Auflehnung gegen den Rechtsstaat und damit gegen das staatstragende System. Und dies darf auch ein Herr Gallilei nicht. Eine alte Erkenntnis, die weiter gilt.