Und wieder Sylvester

Der 31.12., Sylvester, ist ein Tag, der sich nicht umgehen lässt. Er ist damit letztlich wie jeder x-beliebige Tag im Jahr, da keiner von ihnen ausgelassen werden kann. Aber er ist nach unserem Kalender ein Tag, der eine Zäsur macht, der zeitliche Abschnitte trennt. Er ist daher wohl ebenso bedeutsam wie der eigene Geburtstag: In beiden Fällen wird man daran erinnert, dass wieder ein zeitlich kompakter Abschnitt vorbei ist.

 

Ich frage mich immer, weshalb wohl die meisten Menschen dies feiern. Sie feiern ihren Geburtstag ebenso wie Sylvester; sie feiern das vollendete Lebensjahr bzw. des Beginn des neuen Lebensjahres ebenso wie sie das Ende des Jahres bzw. den Beginn des neuen Jahres feiern.

 

Aber was ist daran so feiernswert ? Mit dem Ende des Jahres stehen wieder die Abgabe der Steuererklärungen für dieses abgelaufene Jahr an; es werden wieder die jährlichen Versicherungsprämien und Steuern fällig. Und im übrigen ändert sich nichts. Ob es nun der Montag, Dienstag oder ein anderer Wochentag vor Sylvester oder ob es der Montag, Dienstag oder ein anderer Wochentag nach Sylvester ist – es ändert sich nichts. Jeder Tag ist wie der andere. Es sei denn, es ändert sich im neuen Zeitabschnitt oder hat sich im alten Zeitabschnitt etwas geändert, z.B. ist man in Rente gegangen. Aber das wäre nur ein Umbruch im Laufe der zeitlichen Einheit und würde die Feier der Zäsur dieser Einheit zum 31.12. nicht rechtfertigen können.

 

Im Gegenteil. Unser Leben berechnen wir nach Jahren. So auch unsere Lebenserwartung. Statistisch wird diese als „mittlere Lebenserwartung“ bezeichnet, die jeder jeden Tag für sich berechnen kann mit der Erkenntnis, wann exakt sein Todesdatum ist (aber bitte für diesen statistischen Tag beachten: Keine sonstigen Termine vornehmen, da die Uhrzeit noch nicht mitgeteilt wird). Mit dem Ablauf des Jahres wird ebenso wie bei einem Geburtstag deutlich, dass von dieser statistischen Zeitspanne wieder ein Teil abgeschnitten ist, endgültig, unwiederbringlich. Und das soll gefeiert werden ?

 

Es erinnert an den Tanz auf der Titanic. Die Kapelle spielt weiter, auch in Ansehung des unweigerlichen Untergangs und Todes. Hätte sie nicht gespielt, wäre das Schiff auch untergegangen. Und wären die Mitglieder der Kapelle auch ertrunken. Wie hatte der damalige Präsident des IOC nach dem Münchener Attentat gesagt: „The games must go on.“ Er wurde dafür teilweise scharf angegriffen, dies sei in Ansehung der Toten respektlos. Aber machen wir es nicht ständig so ? Sei es die Feiern zum Geburtstag oder die Feiern Sylvester. Unabhängig von allem, was auf der Welt passiert und unabhängig von den Schicksalsschlägen in der eigenen näheren Umgebung oder bei einem selbst: Das Spiel des Lebens geht so lange weiter, so lange Du noch atmest und Dein Herz schlägt.

 

Wird gefeiert, da das Spiel des Lebens weitergeht, weil wir wieder 365 Tage in den Tritt verfallen, der auch bisher 365 Tage regierte ? Oder wird gefeiert, dass wir immerhin die letzten 365 Tage hinter uns gebracht haben und noch nicht ausgeschieden sind ?

 

„Brot und Spiele“ war im alten Rom sowohl unter seinen Kaisern als auch während der Republik das Mittel, mit dem die römische Bevölkerung für die das finanzierenden Politiker bzw. für den Kaiser sympathisiert wurden. Mit den Spielen wurde Abwechslung in einen tristen Alltag gebracht. Und nichts anderes machen wir, wenn wir zu bestimmten Daten feiern, nämlich zum Geburtstag oder eben zu Sylvester. Auch wenn diese Daten uns vorgegeben werden und wenn gerade dem Datum  Sylvester schon ein Zwang zur allgemeinen Feier anhaftet. Damit aber muten diese Feiern an wie das Aufspielen der Kapelle auf der Titanic: Das Weiterfeiern in der Gewissheit, dass dies alles keine Ewigkeit mehr hält. Die statistische Uhr läuft auch in der Realität.

 

 

Aber muss man sich wirklich zu Geburtstagen und zu Sylvester in Feiern ergehen ? Der Tag ist wie jeder andere. Er bringt nur formal eine weitere neue Zahl (die des Jahres) ins Spiel. Und es wird sich alles wiederholen. Und ob ich lebe, vermag ich nicht am feiern zu ermessen, wie ich auch durch die Feier nicht den Untergang fernhalten kann. Ich brauche nicht die Feier zur Ablenkung. Ich bin da ich lebe, und ich lebe da ich bin.